Schlußbetrachtung

Auszüge aus der Schlußbetrachtung von „Deutschland und der Völkerbund 1918–1926“

Eine abschließende Bewertung des Verhältnisses Deutschlands zum Völkerbund in der Zeit zwischen dem Ende des Weltkriegs im November 1918 und der Übergabe des deutschen Beitrittsgesuchs im Februar 1926 fällt nicht leicht. Jede Bewertung hängt maßgeblich davon ab, in welchen Kontext das Geschehene eingeordnet werden soll: Deutschland als Kriegsverlierer, Deutschland als Großmacht, Deutschland als labile Demokratie, die deutsche Völkerbundspolitik, der Völkerbund in der deutschen Innenpolitik, die Deutschen und der Völkerbund, das internationale System etc. Für eine Schlußbetrachtung scheint es angemessen, auf das in der Einleitung formulierte Erkenntnisinteresse zurückzukommen, welche Dispositionen zu welchen Handlungsalternativen bezüglich des deutschen Verhältnisses zum Völkerbund zwischen 1918 und 1926 bestanden haben.

Die Einstellung der Deutschen zum Völkerbund als Organisation hing, dies dürfte allein schon den Ausführungen im systematischen Teil zu entnehmen gewesen sein, nicht von einer oder mehreren spezifisch deutschen Variablen ab. Innen- oder außenpolitische Besonderheiten konnten wie in anderen Ländern auch die Ausprägung des deutschen Verhältnisses zum Völkerbund beeinflussen. In den USA gelang es den Republikanern, den Völkerbund innerhalb weniger Monate so weit zu diskreditieren, daß eine Mitgliedschaft über Jahre hinaus undenkbar wurde. In Frankreich erreichte die Völkerbundskritik Anfang 1923 ihren Höhepunkt, als die Existenz des Völkerbundes die französischen Bemühungen um Durchsetzung der eigenen Interpretation des Friedensvertrages in Frage zu stellen drohte. Erst nach dem Scheitern der Politik der Vertragserzwingung und dem Regierungswechsel vom Bloc National zum Cartel des Gauches versuchte die französische Regierung den Völkerbund als Aushilfe zur Stützung des Versailler Systems zu gebrauchen.

Die Mehrheit der Deutschen begrüßte 1918/19 Wilsons Vision einer Friedensordnung aufrichtig. Die Gründung eines Völkerbundes versprach einen solidarischen wirtschaftlichen Wiederaufbaus Europas, die gleichberechtigte Integration Deutschlands in das internationale System, die Legitimierung des Übergangs von der Monarchie zur Republik sowie die Gewißheit, die eigene historische Erinnerung über den Sinn des Weltkrieges in die gemeinsame Erinnerung der Weltkriegsteilnehmer einbringen zu dürfen. Indem die Sieger die deutsche Demokratie von den Verhandlungen ausschlossen und die Aufnahme in den Völkerbund verweigerten, fielen diese Vorteile weg. Die Haltung zum Völkerbund schlug von Euphorie in Aversion und Distanz um. Die Tätigkeit des Völkerbundes in den Folgejahren trug nicht dazu bei, das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Weltorganisation zu wecken. Die stillschweigende Hinnahme der fragwürdigen Begleitumstände der »consultation populaire« in Eupen-Malmédy, die Teilungsentscheidung über Oberschlesien, die den französischen Interessen untergeordnete Verwaltungstätigkeit der Regierungskommission im Saargebiet und die Untätigkeit bei deutschen Vermittlungsersuchen hätte auch in anderen Ländern den Völkerbund unpopulär gemacht. Die deutsche Kritik am Völkerbund war immer auch eine Kritik am Versailler System. Die Aufnahme der Völkerbundssatzung in den Versailler Vertrag wird bei der ablehnenden Beurteilung kaum eine Rolle gespielt haben. Die Deutschen begrüßten die Reintegration Deutschlands in das internationale System durch Locarno und den Völkerbundsbeitritt als eine Gelegenheit, nach den Jahren der »great disorder« (Gerald Feldman) endlich die lang ersehnte außenpolitische Stabilität zu erhalten, ohne die der wirtschaftliche Wiederaufbau und die Konsolidierung der Republik immer gefährdet war.

Der Völkerbund als Instrument zur Friedenssicherung war in diesen Jahren von geringem Interesse. Solange fremde Truppen auf deutschem Boden standen, der Völkerbund aber trotz der Bemühungen der Reichsregierung nicht als Schiedsinstanz gegen die französische Vertragsinterpretation angerufen werden konnte, schien er seine vornehmste Aufgabe nicht erfüllen zu können. Die Aussicht, nach einem Völkerbundsbeitritt Polen gegen einen hypothetischen russischen Angriff militärisch beistehen zu müssen, war für die Deutschen noch weniger verlockend als für die anderen Völkerbundsmitglieder. Die Neutralität im polnisch-sowjetischen Krieg hatte sich bewährt und dazu beigetragen, den Krieg von den deutschen Grenzen fernzuhalten. Den französischen Truppen, welche im Rheinland den Separatisten militärischen Schutz boten und das gereizte nationale Selbstbewußtsein durch ihre Kontrollbesuche in deutschen Kasernen und Fabriken herausforderten, das nach Art. 16 Vbs vorgesehene Durchmarschrecht zu gewähren, wäre von der Bevölkerung nicht als ein Beitrag zur Friedenssicherung verstanden worden. Den in den USA und Großbritannien verbreiteten Glauben an die friedenssichernde Kraft der Öffentlichen Meinung konnten die Deutschen wie nahezu alle Kontinentaleuropäer nicht teilen. Aus ihrer Sicht war dies eine Verbrämung der nationalen Interessen beiden Staaten, die sich nur ihre völlige Handlungsfreiheit bei allen Konflikten bewahren und nicht ihre vorteilhafte Rolle als Schiedsrichter ohne Verantwortung aufgeben wollten.

Die These, die Deutschen hätten den Völkerbund abgelehnt, weil sie in ihm die Verkörperung des Kompromisses in den internationalen Beziehungen gesehen hätten, übersieht den Unterschied zwischen dem Genfer und dem Versailler System. Den Deutschen war bewußt, daß eine Niederlage im Weltkrieg bedeutete, sich den Ordnungsvorstellungen der Sieger fügen zu müssen. Eine siegreiche Kombination Frankreich-Rußland hätte keinen Völkerbund errichtet und ganz andere Friedensbedingungen diktiert, als dies 1919 der Fall war. Durch den Kriegseintritt der USA und Wilsons Stellungnahmen über einen fairen, auf Prinzipien basierenden Frieden veränderte sich die deutsche Erwartungshaltung. Die in der Lansing-Note konkretisierte Verpflichtung der Sieger, einen Frieden auf der Basis der Vierzehn Punkte abzuschließen, weckte bei den Deutschen die Erwartung, daß ein Frieden auf der Basis eines Kompromisses abgeschlossen würde. Die Anwendung innerpolitischer Methoden auf die Friedensregelung hätte es erforderlich gemacht, die beiden wichtigsten »Interessengruppen« Europas, Deutschland und Rußland, in das internationale System zu integrieren und ihre Interessen zu berücksichtigen. Indem die Sieger einen Kompromiß ablehnten, aber gleichzeitig darauf beharrten, einen fairen und gerechten Frieden auf der Basis allgemein gültiger Prinzipien abgeschlossen zu haben, der auch ohne die militärische Übermacht der Alliierten, also sogar bei einem deutschen Sieg, ein Recht auf Anerkennung verdient hätte, befriedigten sie zwar kurzfristig den Nationalismus ihrer Wähler, schufen aber zugleich ein äußerst labiles internationales System. Die Sieger hatten darauf verzichtet, den Deutschen wirksame Anreize für die Erfüllung der Friedensbedingungen zu bieten. Die Widersprüche zwischen dem Versailler System, dem Weltwirtschaftssystem und dem Genfer System verschärften sich durch die Wiegerung des amerikanischen Senats, den Versailler Vertrag zu ratifizieren. Nur die USA als Garantiemacht des Genfer Systems hätten die Macht dazu besessen, die Widersprüche zwischen den internationalen Systemen aufzufangen.

Die politischen Beziehungen Deutschlands zum Völkerbund wurden weitgehend vom Auswärtigen Amt bestimmt. Der Stellenwert der Völkerbundspolitik als ein Bestandteil der deutschen Außenpolitik war fast ausschließlich von der deutschen Stellung im internationalen System, dessen Veränderungen und den Völkerbundspolitiken der anderen Staaten abhängig. Die Diplomaten zeigten sich von den Initiativen der Interessengruppen weitgehend unbeeindruckt. Dies fiel ihnen um so leichter, als die Pazifisten mit ihren Aufforderungen zum Völkerbundsbeitritt nicht auf eine Massenbasis bauen konnten. In der internationalen Debatte über den deutschen Völkerbundsbeitritt wurde erbittert darum gerungen, welche Stellung Deutschland im internationalen System einnehmen sollte. Die Versuche der deutschen Völkerbundspolitik zwischen 1919 und 1921, den Völkerbund als Schiedsrichter in den Streitigkeiten mit den Alliierten über die Auslegung des Friedensvertrages und andere Streitfragen einzuschalten, scheiterten am französischen Widerstand. Wie sehr die deutsche Außenpolitik bis zur Teilungsentscheidung über Oberschlesien an der Herstellung eines normalen Verhältnisses zu den Siegern gelegen war, belegt Simons‘ Intention, das Reich auch unter Verzicht auf einen ständigen Ratssitz in den Völkerbund zu führen. Zu einer fundamentalen Umstellung seiner Deutschlandpolitik war Frankreich aber weder 1920 noch in den drei Folgejahren bereit. Erst nachdem die ehrgeizigen Pläne zu einer Verschiebung des wirtschaftlichen Gefälles zwischen beiden Ländern gescheitert waren und das Deutsche Reich mit dem Datum des 10. Januar 1925 eine gewisse Verhandlungsmacht zurückgewann, wurde es für Frankreich dringlich, nicht nur über, sondern auch mit Deutschland zu verhandeln. Hätte das Reich in diesen Jahren ein Beitrittsgesuch in Genf übergeben, hätte dies die Intensität der deutsch-französischen Konfrontation nur erhöht. Denn Deutschland hatte weder seine internationalen Verpflichtungen inklusive Abrüstungsverpflichtungen und Reparationszahlungen erfüllt, noch hätte eine Reichsregierung guten Gewissens eine Erfüllung für die Zukunft zusichern können. Die (vorläufige) Regelung der Reparationsfrage durch den Dawes-Plan beseitigte das Haupthindernis für den deutschen Völkerbundsbeitritt. In einer zentralen Frage war ein Kompromiß zwischen den Beteiligten erzielt worden. Die deutsche Außenpolitik versuchte in diesen Jahren ihre Verhandlungsposition zu verbessern, indem sie sich als überzeugte Anhängerin des Genfer Systems präsentierte. Die unter Simons begonnene Schiedsvertragspolitik gestattete es, Völkerbundspolitik zu betreiben, ohne Mitglied der Genfer Organisation zu sein.